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Endgültiges Ende von Sperrklauseln im Europawahlrecht? Eine Nachlese zu BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2014

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil die im Europawahlgesetz (EuWG) verankerte Drei-Prozent-Sperrklausel für die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) für nichtig erklärt.

Die Drei-Prozent-Sperrklausel: Die für die Sperrklausel maßgebliche bundesgesetzliche Bestimmung des § 2 Abs. 7 EuWG trat am 10. Oktober 2013 in Kraft und löste die am 9. November 2011 vom BVerfG für verfassungswidrig erklärte Fünf-Prozent-Sperrklausel (BVerfGE 129, 300) bei Europawahlen ab. Nach § 2 Abs. 7 EuWG sollen nur solche Wahlvorschläge für das EP berücksichtigt werden, die mindestens drei Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen Stimmen erlangt haben.

Die Mitglieder des EP werden in den Mitgliedstaaten nach den Maßgaben des Direktwahlaktes (DWA) in einem Verhältniswahlsystem direkt gewählt. Die Ausgestaltung des Wahlverfahrens im Einzelnen obliegt den Mitgliedsstaaten, wobei nach Art. 3 DAW keine Sperrklauseln von mehr als Fünf-Prozent eingeführt werden dürfen. Die nationalen Wahlrechtsvorschriften unterliegen den verfassungsrechtlichen Bedingungen des jeweiligen Mitgliedstaates. Etwa die Hälfte der Mitgliedsstaaten verfügen über formale Sperrklauseln zwischen drei bis fünf Prozent. Der Vorgabe in Art. 223 Abs. 1 AEUV, einen Entwurf für ein einheitliches Wahlverfahren für alle Mitgliedstaaten zu erstellen, ist das EP bislang nicht nachgekommen.

Das EP fungiert als das demokratische Repräsentativorgan in der Europäischen Union. Seit seiner Gründung 1952 sind die Kompetenzen des Parlaments kontinuierlich gestärkt worden. Mittlerweile ist das Organ der Europäischen Union u.a. an der Gesetzgebung beteiligt, übt Kontrollfunktionen aus und nimmt wichtige Funktionen im Haushaltsrecht ein. Zentrale parlamentarische Befugnisse, wie das Recht zur Gesetzesinitiative, fehlen allerdings nach wie vor. In einer Entschließung des Gremiums vom 22. November 2012 werden die europäischen Parteien aufgefordert, Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission zu nominieren. Zudem geht aus der Entschließung hervor, dass eine Stärkung der Legitimität des Parlaments und der Kommission durch eine unmittelbarere Verknüpfung der Entscheidung der Wähler für wichtig erachtet wird.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil des BVerfG vom 26. Februar 2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2BvR 2220/13 u.a): Nach dem mit 5:3 Stimmen ergangenen Urteil des Zweiten Senats verstößt die Drei-Prozent-Sperrklausel bei Europawahlen gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien und ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Mit dem Urteil ist das Gericht den Anträgen mehrerer kleinerer Parteien verschiedenster politischer Ausrichtung nachgekommen.

Das BVerfG konkretisiert mit seiner Entscheidung sein Urteil vom 9. November 2011 zur Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht und wendet die verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe des Urteils in dem vorliegenden Verfahren erneut an.

Die Wahlrechtsgleichheit ergibt sich für die Wahl der deutschen Abgeordneten des EP aus Art. 3 GG. Aus dem Grundsatz folgt für das Wahlgesetz, dass jede Stimme grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance habe muss. Bei der vorliegenden Verhältniswahl muss zudem die Erfolgswertgleichheit gewahrt werden, so dass jede Stimme den gleichen Einfluss auf die Vertretung im Parlament besitzt.

Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien leitet sich aus Art. 21 GG ab und verlangt, dass jeder Partei die gleichen Chancen im Wahlverfahren und bei der Verteilung der Sitze im Parlament eingeräumt werden. Beide Grundsätze werden durch die Drei-Prozent-Sperrklausel verletzt. Die Klausel bewirkt eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen, da die Parteien nicht berücksichtigt werden, die den Mindestanteil von drei Prozent nicht erreicht haben. Damit entfalten diese Stimmen zudem keinen Erfolgswert.

Nach dem BVerfG gibt es einen engen Zusammenhang zwischen beiden Grundsätzen, so dass bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung die gleichen Maßstäbe angewendet werden. Grundsätzlich gilt dabei, dass kein absolutes Differenzierungsverbot besteht und dem Gesetzgeber ein enger Spielraum für die Einführung von Sperrklauseln zusteht. Ein zwingender Grund zur Rechtfertigung mag das Gericht allerdings nicht erkennen. Insbesondere sei die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments, die einen sachlich legitimierten Rechtfertigungsgrund darstellt, ohne eine Sperrklausel nicht gefährdet. Die Prüfung der Funktionsfähigkeit bemisst sich dabei an den konkreten Funktionen des zu wählenden Organs sowie an den aktuellen Verhältnissen. Künftige Entwicklungen dürfen nur berücksichtigt werden, soweit sie verlässlich prognostiziert werden können. Dem Gericht zufolge haben sich die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse seit dem Urteil zur Fünf-Prozent-Klausel nicht entscheidend geändert. So existiert (weiterhin) keine unionsrechtliche Sperrklausel. Ein rechtlich unverbindlicher Appell des EP reicht nicht aus. Daneben sieht das Gericht keine politischen oder institutionellen Entwicklungen, die zu einer Änderung der Funktionsbedingungen des Parlaments führen. Das EP sei insbesondere nicht mit einem nationalen Parlament vergleichbar, das für die Wahl und die Unterstützung einer handlungsfähigen Regierung nötig wäre. Eine strukturelle Beeinträchtigung der Mehrheitsbildung im EP durch eine Zuwahl von Abgeordneten kleinerer Parteien sei nicht belegbar. Darüber hinaus sieht das BVerfG keinen grundlegenden Unterschied zwischen der Drei- und Fünf-Prozent-Klausel, da die Drei-Prozent-Klausel dadurch, dass ein Sitz im EP bereits mit etwa einem Prozent der abgegeben Stimmen errungen werden kann, praktische Wirksamkeit entfaltet.

Ausblick: Mit dem Urteil hat das BVerfG die Bedeutung der Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien unterstrichen und ist seiner Rechtsprechung treu geblieben. Daraus folgt allerdings nicht, dass Sperrklauseln für die Wahlen zum EP zukünftig völlig ausgeschlossen wären. Bei tatsächlichen oder konkret absehbaren Entwicklungen der Verhältnisse kann eine Sperrklausel verfassungsgemäß sein. Voraussetzung dafür ist eine deutliche Annäherung des EP an die Kompetenzen eines nationalen Parlaments. In einem Sondervotum zum Urteil ist bezweifelt worden, dass es Aufgabe des BVerfG ist, die Prognoseentscheidung des Gesetzgebers zur Gestaltung des Wahlrechts zu kontrollieren und eine eigene Prognoseentscheidung anzustellen. Die Mehrheit des 2. Senats sieht das - in nunmehr gefestigter Rechtsprechung - anders.

Die (Wieder-)Einführung einer Sperrklausel im Europawahlrecht ist insoweit nur noch in zwei Konstellationen denkbar: 1. Das EP müsste - wohl mindestens - im Rahmen einer Änderung der Europäischen Verträge deutlich an Kompetenzen hinzugewinnen. 2. Im Rahmen des Status quo wäre allenfalls denkbar, dass eine Sperrklausel unter Änderung des Grundgesetzes verabschiedet wird, also verfassungsrechtlichen Rang erhält. Diese Lösung ist im Übrigen bereits bei der Einführung der 3-Prozent Klausel in § 2 Abs. 7 EuWG im Jahr 2013 Gegenstand der Ausschussberatungen gewesen. Zu den mit diesem regelmäßig rein politisch motivierten Vorgehen verbundenen verfassungsrechtlichen Fragestellungen vgl. die Pressemitteilung unter http://rechtsanwalt-merkle.de/startseite/sperrklausel-ii/

Ass. jur. Benjamin Bittermann

 

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